Afrikanische Zeit

„Zeit vergeht nicht. Zeit entsteht. Sie machen Zeit.“

Ich habe sie gesehen, die Makonde-Schnitzer unter dem Strohdach in der tansanischen Steppe: Singend, dösend, wartend. Und auch die Bananenverkäufer am Rande der Straße nach Moshé. Schweigend, plappernd, sitzend. Und auch die Sisal-Arbeiter auf der abgebrannten Erde des Dorfes, schwitzend, hockend, gähnend, die alten und die jungen Leute unter den Feuerbäumen, liegend, tauschend, beobachtend. Es umgab mich in diesem Land die verführende und verführerische Faszination der Ruhe.

Aber ich reagierte europäisch und fragte meinen schwarzen Freund: „Was machen all´ die Leute da? Sie sitzen und dösen und plappern und warten. So könnt ihr niemals den Anschluss an den Fortschritt gewinnen.“ „Du hast den Eindruck, unsere Leute sind faul, nicht wahr?“, fragte er kurz dagegen. Ich verhehlte nicht, dass meine Gedanken zumindest in diese Richtung gingen. „Was ich jetzt sage“, fuhr er fort, „wirst Du kaum verstehen. Diese Leute sitzen da und machen Zeit. Das alte Afrika kennt auch in seinen Sprachen keine Form der Zukunft. Wir haben keine Zeit, also können wir auch nicht über sie verfügen, können nicht planen und uns nicht festlegen. Alle Zeit ist ein Geschenk; sie muss erst entstehen. Wir können sie nur erwarten.“

„Und wodurch entsteht Zeit?“ fragte ich. „Durch Regen“, sagte er, „oder durch die Geburt eines Kindes, durch Krankheit, durch Hochzeit, durch eine Begegnung, einen Tanz, durch ein Gespräch oder ein Fest. Dann ist die Zeit geboren und wir können in ihr leben. Dann rechnen wir auch nicht wie Ihr Europäer die Zeit nach Tagen und Jahren, sondern nach Leben und Ereignissen. Mehr noch, wir rechnen nicht, sondern erfahren. Dadurch bekommt unser Leben seinen Sinn und seine Hoffnung.“

Ich will darüber nachdenken“, warf ich ein. „Das ist schon der erste Fehler“, meinte mein Freund, „Du musst Dich öffnen für das, was auf Dich zukommt.“

Mir fiel damals auf, dass sie alle keine Armbanduhren hatten. Ich fuhr nach Haus mit dem Gedanken, wie schön es wäre, wenn… aber dazu ist es wohl zu spät.

 

Text von Peter Sprangenberg, während einer Namibia-Reise aufgelesen von Volker Schweisfurth auf der Hakos-Farm im Juni 2010. Foto von Pixabay.