Robben haben Zeit
Seehunde haben ein Zeitgefühl. Die Meeressäuger können Zeitintervalle teils sogar im Millisekundenbereich unterscheiden. Diese bahnbrechende Erkenntnis haben Wissenschaftler des Robben-Forschungszentrums der Universität Rostock in einer einjährigen Studie herausgefunden und damit erstmals dieses Phänomen direkt beschrieben. Bereits kurz nach der ersten Veröffentlichung in der anerkannten wissenschaftlichen Zeitschrift „Animal Cognition“ gibt es international Interesse für diese Forschungsergebnisse.
Im Marine Science Center Rostock, eines der größten Robbenforschungszentren, enträtselt Prof. Dr. Guido Dehnhardt zusammen mit seinem Team aus Biologen und Physikern die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten von neun Seehunden und drei Ohrenrobben. Als Forschungseinrichtung dient ihnen ein umgebautes Personenschiff, die „Lichtenberg“, im Yachthafen von Rostock – Hohe Düne.
Jetzt steht fest: Das Zeitgefühl der Robben ist gut ausgeprägt. Diese Forschung weicht ab von der klassischen sinnesbiologischen Untersuchung. „Zeit ist kein Reiz, wie es ein optischer Reiz ist“, verdeutlicht Dr. Frederike Hanke, die zusammen mit Prof. Dr. Guido Dehnhardt das von der Graduiertenstiftung MV und der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt betreut. Das Zeitempfinden sei jedoch für die Tiere von großer Bedeutung, beispielsweise für Futtersuche und Orientierung, um einzuschätzen, wie lange sie schon unterwegs waren oder welche Strecke sie in welcher Zeit zurückgelegt haben. „Zeit spielt wahrscheinlich für Robben eine entscheidende Rolle, vor allen Dingen in einem Lebensraum, in dem es teilweise externe Reize nicht oder nur begrenzt gibt“, so Frederike Hanke.
Doktorandin Tamara Heinrich hat das spannende Experiment mit Seehund Luca über ein Jahr, fünf bis sechs Tage die Woche, durchgeführt. „ Der 13-jährige Seehund ist ein kluges Tier“, urteilt die 28-jährige Wissenschaftlerin und fügt an: „Er hat erstaunlich schnell gelernt, Zeitintervalle zu unterscheiden.“ Durch die enge Vertrautheit mit Luca gelang konzentriertes Arbeiten in einer Dunkelkammer unter konstanten Lichtverhältnissen. „So ist der Reiz eindeutig definiert und mögliche Einflüsse der Umgebungshelligkeit auf das Zeitempfinden können ausgeschlossen werden“, erläutert Tamara Heinrich.
Der Seehund legt beim Experiment auf Kommando seinen Kopf in einen Ring. Darin verharrt er in einer Ruheposition, während ihm ein Zeitintervall präsentiert wird – markiert durch einen weißen Kreis, der für eine vorprogrammierte Zeit auf einem Computerbildschirm erscheint. Mit dem Antippen einer Kugel auf der linken oder auf der rechten Seite des Ringes signalisiert Luca, ob das Signal das für eine Testreihe konstante oder ein längeres Zeitintervall war. Konkret: Wurde ihm das konstante Zeitintervall gezeigt, bewegte er seinen Kopf auf die linke Seite; wurde ihm ein längerer Zeitreiz angeboten, musste er seinen Kopf auf die rechte Seite bewegen. Für eine richtige Entscheidung wurde Luca mit Fisch belohnt und immer wieder neu motiviert. „Wir haben die Genauigkeit des Zeitgefühls für viele Zeitintervalle zwischen drei und 30 Sekunden bestimmt“, sagt Tamara Heinrich. „Die Genauigkeit nimmt beim Seehund ab, je länger der konstante Reiz ist – ein bereits von anderen Sinnesmodalitäten bekanntes Phänomen“.
Luca zeigte seiner Betreuerin, dass er den Versuch mag. Sobald Tamara Heinrich den Versuch aufbaute, lief er in die Station und wartete schon, bis es mit dem Experiment losging – mit hoher Konzentration von Tier und Forscherin. Text: Wolfgang Thiel